Mein Bruder

Wir waren gerade beim Essen, da ging der Piepser wieder ab. Gleich darauf läutete schon das Handy und wir wussten – das Essen können wir uns abschminken. Ein Notruf ist hereingekommen – schwerer Verkehrsunfall auf der Autobahn, einige Rettungswagen und ein Notarzt sind schon vor Ort!

Wir machten uns sofort auf den Weg – mit Blaulicht Richtung Autobahn. Auf der Autobahn holte uns dann der zweite Notarzt ein. Die Fahrt zog sich ewig dahin – wo genau ist es passiert, was wird uns erwarten, wie viele Verletzte sind es genau? Und dann – überall Blaulicht – in der Nacht konnte man es schon von weitem sehen. Der Unfall war kurz nach einer Ausfahrt in unserer Fahrtrichtung, aber auf der gegenüberliegenden Fahrspur – das heißt wir müssen bis zur nächsten Ausfahrt und dann erst wieder in der richtigen Richtung auffahren!

Es war eine bedrückende Fahrt. Wir wussten genau – als wir in richtiger Richtung unterwegs waren – da vorne steht alles. Es gibt kein weiterkommen. Die vielen Fahrzeug, die wir mit Blaulicht überholt haben. Wir gaben ihnen Zeichen mit der Warnblinkanlage, sie sollten möglichst vorsichtig fahren – ein Auffahrunfall würde gerade noch fehlen.

„Oh mein Gott!“ – wir haben auf der Hinfahrt gerätselt, was uns erwarten wird. Vielleicht waren die Verunglückten gerade auf dem Heimweg von der Disco. Da schoss es mir plötzlich ein – mein Bruder hatte erwähnt, dass er vielleicht auch heute dorthin geht. Konnte es sein – war er unter den Verunglückten? Ist er überhaupt heute in der Disco gewesen? Ich konnte keine klaren Gedanken mehr fassen. Was wenn es sein Fahrzeug ist – wenn er noch drinnen ist?

Da kamen wir schon um die letzte Kurve – alles stand. In Schlangenlinien versuchten wir nach vorne zu kommen. Aus lauter Ungeduld – und absoluter Dummheit – haben einige versucht, am Pannenstreifen an der Unfallstelle vorbeizufahren. Aber wir wussten, es waren alle drei Fahrstreifen blockiert. Wir hatten schön zu tun und dann – wieder überall Blaulicht – wir waren da. Als wir aussprangen und uns für das Schlimmste rüsten wollten, kam uns unser Notfallsanitäter entgegen, der schon etwas früher mit dem Notarzt am Unfallort angekommen war. „Ihr braucht euch nicht mehr beeilen …“ waren seine Worte.

Es kam mit voller Wucht. Natürlich hatten wir mit dem Schlimmsten gerechnet – aber keine Überlebenden? Wir gingen nach vorn, um zu sehen, ob noch irgendwo Hilfe von Nöten ist. Der zweite Notarzt versorgte gerade einen Schwerverletzten. Daneben das Auto – zerstört und eingeklemmt unter der Leitschiene. Links davon noch ein etwas demolierter Reisebus. Hinter dem Auto – etwas versteckt – konnten wir zwei schwarze „Säcke“ liegen sehen – sie wurden bereits zugedeckt.

Wir nahmen die Ersthelferin beiseite und versorgten sie. Sie kam zum Unfall und ist sofort ausgestiegen und ohne viel nachzudenken auf das Auto zugegangen. Ihr Erste-Hilfe-Kurs war noch nicht so lange her. Trotzdem – für Handschuhe war keine Zeit. Überall zersplittertes Glas und Metall – und Blut. Aber das war jetzt egal – diese Menschen brauchten Hilfe. Sie kniete sich zu einem Verletzten und versuchte ihr Bestes. Bis der Notarzt hier war verging Zeit – Zeit, die für die anderen schon abgelaufen war.

Im vorbeigehen hörten wir einen Jungen, der etwas abseits stand. „Wie geht es ihnen – ist eh nicht zu viel passiert? Wie geht es meinem Bruder?“ Ich spürte wieder diesen Knoten. Der Bursch im ersten Auto war auf dem Heimweg von der Disco. Er hatte einige Freunde mit, sein Bruder war selbst unterwegs und wollte etwas später nachkommen. Auf der Autobahn hatte er ihn fast eingeholt. Plötzlich eine Karambolage und er konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen. Es ging alles so schnell.

Im Nachhinein dachte ich mir, ob sein älterer Bruder – gleich wie ich meinem jüngeren – auch oft gesagt hat, dass er nicht so schnell fahren soll. Aber er glaubt es nicht, egal wie oft man es ihm sagt. Er muss es erst selbst erleben, wie es ist, wenn plötzlich ein Hindernis auftaucht und man nicht mehr rechtzeitig bremsen kann.

In diesem Fall kann ihn sein Bruder nicht mehr daran erinnern

© Feuerwehr Viertelfeistritz

 

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